Archiviert | Inhalt wird nicht mehr aktualisiert

Vergangenheit vergegenwärtigen: Über Abwesende, Anwesende und was dazwischen ist

Lesedauer: 22 Minuten

Im Jahre 1965 schuf der israelische Künstler Michael Druks eine aufregende, ganz in Okker- und roten Lehmtönen gehaltene Assemblage, die den Titel „Ein Mahnmal für Manshiye“ trägt. Es ist eine dreidimensionale Collage aus Bauschutt und Überresten von Mobiliar, aufgelesen von Druks am Strand zwischen Tel Aviv und Jaffa. In einem hölzernen Fensterrahmen arrangiert der Künstler Bruchstücke von Fußbodenfliesen, Sprungfedern aus Bettgestellen, Tür- oder Fensterscharniere und ein Stück Stuhl- oder Tischbein zu einer Komposition, die sich auf der gesamten Fläche des ursprünglichen Fensterrahmens drängt. Der Blick wird zudem versperrt durch die massive Betonplatte, auf die die einzelnen Elemente der Assemblage aufgeklebt sind. Hängt es an der Wand, wie ein Fenster, ist das Kunstwerk zwar horizontal ausgerichtet, doch ist seine Perspektive eigentlich eine senkrechte, auf den Boden und die Überreste der Pflasterung gerichtet. Darunter offenbart sich eine Art archäologische Grabung, die eine materielle arabische Kultur freilegt, wie sie in den geometrischen Verzierungen der Kachelbruchstücke erkennbar wird, in der abgerundeten Form des herausgerissenen Fensters und den Überresten seiner kunstvollen Beschläge. Dieses Werk aus den Bruchstücken von Erinnerung, die den Dingen innewohnt, beschreibt Vergängnis und Vergehen, ein Prozess, der durch Wasser, Salz und Sand, die an Eisen, Keramik und Holz nagen, beschleunigt wird.

Man könnte meinen, Druks habe in dem Fensterrahmen einfangen wollen, was der polnische Dichter Zbigniew Herbert einmal als „die Verwandlung von Leben in Altertumsforschung“ bezeichnet hat. Druks Arbeit dokumentiert die Überreste von Manshiye, ein von wohlhabenden Arabern Ende des 19. Jahrhunderts außerhalb der Mauern von Jaffa errichtetes Viertel, das im Zuge der Kämpfe von 1948 aufgegeben und gleich nach Kriegsende durch mittellose jüdische Flüchtlinge und Immigranten in Besitz genommen worden war. Zu dem Zeitpunkt, als Druks seine Arbeit anfertigte, Mitte der sechziger Jahre, war Manshiye gerade dabei, geräumt und abgerissen zu werden. Die Funde, die bei Freilegung der obersten archäologischen Schicht zutage treten, dokumentieren den rasanten Übergang von einem Habitat hin zu bloßem Bauschutt.

Die Geschichte als Ausgrabungsstätte

Mit genau diesem Übergang beschäftigt sich mein Schreiben und Forschen. Und so wie das in einem Fensterrahmen gefangene Manshiye – einem „Jaffoischen Rahmen“, wie Druks seine Arbeit in Anspielung auf eine lokale pittoreske Romantik ironisch nennt – ihm als Gleichnis dient, so dient mir das Viertel Wadi Salib in Haifa als Ausgrabungsstätte, deren Funde Schicht um Schicht die historische Textur in ihrer Gesamtheit offenlegen: die muslimische Phase, die kurze Präsenz von zugezogenen Holocaustüberlebenden und die Anwesenheit der letzten Bewohner, der jüdischen Emigranten aus den Armenvierteln – den Mellahs Marokkos. Überflüssig zu erwähnen, dass – im Unterschied zur gängigen archäologischen Praxis – das Interesse dieser kontemporären Archäologie vor allem den feinen Schichten zwischen den kurzen Zeiträumen und raschen Übergängen von einer Phase zur nächsten gilt. Die Ausgrabungsarbeit indes wird durch die Komprimiertheit der einzelnen Schichten verkompliziert, da sie auch eine Deutung und Dechiffrierung der Funde erschwert.

In der kontemporären Archäologie, die sich sowohl visueller als auch verbaler Mittel bedient, ist die Ausbreitung der Fundstücke mit einer Vergegenwärtigung vergleichbar. Ein Habitat, das sich sonst verborgen innerhalb der Mauern eines Hauses findet, liegt – nachdem die Mauern eingestürzt sind –, entblößt und für alle Welt sichtbar da. Die Gegenstände sind – wie der palästinensische Autor Ghassan Kanafani seinen Helden Said sagen lässt – „sein geheiligter, persönlichster Besitz, den nie jemand, wer immer es auch sei, kennenlernen oder berühren oder auch nur sehen dürfe“; so in der im Exil in Beirut verfassten Novelle „Rückkehr nach Haifa“, in der der Besuch eines Flüchtlings in seinem Haus fast zwanzig Jahre nach seiner Flucht oder Vertreibung beschrieben wird. Die Entblößung dieses „hinterlassenen Besitzes“ – so die Bezeichnung durch die israelische Rechtsprechung – vergegenwärtigt die Existenz seines vormaligen Bewohners als die eines Abwesenden. Gleichzeitig zeugt der private und alltägliche Charakter der Fundstücke, von Hausrat und Einrichtungsgegenständen, wie sie das Leben eines jeden Einzelnen von uns ausfüllen, von den persönlichen Vorlieben eines Menschen, der sich sein Zuhause schafft, gibt Neigungen und Geschmack preis, seine geheimen Wünsche und Erwartungen, und dient als Beleg dafür, dass – wie Alexander Demandt einmal schrieb – „alle geschichtliche Vergangenheit einmal menschliche Zukunft war“.

An dieser Tatsache ist auf den ersten Blick nichts Besonderes. Historiographie befasst sich stets mit der Spannung zwischen gegenläufigen Zeitachsen. Historiker betrachten ein Ereignis von einem späteren Zeitpunkt aus, von dessen Ende her – während die Objekte dieses historischen Prozesses diesen gelebt und von Anbeginn an daran teilhatten. Pointiert formuliert Demandt dies in seinem Buch „Ungeschehene Geschichte“, er schreibt: „Der Historiker sieht aus der jeweils gegebenen Situation zurück auf deren Vergangenheit. Diese erscheint als ein Fächer von Einbahnstraßen, die alle auf das zur Blickbasis gewählte Ereignis zulaufen. [...] Der Handelnde hingegen blickt aus der Lage, in der er sich befindet, in die Zukunft. Für ihn kehrt sich der Fächer um.“

Historiker/innen als Handelnde

Doch diese bekannte teleologische Falle macht es vor allem jenen schwer, die über ein noch offenes historisches Kapitel schreiben, ein Kapitel, dessen Ende nicht abzusehen ist. Dies umso mehr, als es sich um einen noch virulenten, aktiven nationalen Konflikt handelt, der als historisches Ereignis von den an ihm Beteiligten  beschrieben wird. Unter solchen Umständen werden Historiker und Handelnder de facto eins. Das historische Schreiben sieht sich dabei nicht nur mit dem Ausbleiben einer Perspektive konfrontiert, die es erlauben würde, für die Gegenseite Empathie zu empfinden, sondern mit dem Wissen, dass das Schreiben von Geschichte politische Implikationen besitzt. Sie kann zu Legitimationszwecken in einem Diskurs bemüht werden, über den der Historiker oder die Historikerin keine Kontrolle ausüben, und der in der Lage ist, ihr eigenes Schicksal zu bestimmen.

Um mich ein wenig von der Lähmung freizumachen, die dem historischen Schreiben inmitten eines Konfliktes und angesichts einer ungewissen Zukunft innewohnt, habe ich einige Vorsichtsmaßnahmen ergriffen. Um die unterste Schicht freizulegen, die früheste und verborgenste Schicht von allen, habe ich die oberste, die jüngste und offensichtliche Schicht beiseite geräumt und sie dabei vielleicht auch beschädigt. Denn die archäologische Grabung kehrt die Anordnung der Schichten um und bringt so den chronologischen Ablauf als kausale Erklärung ins Wanken. Zudem ermöglicht die Einbeziehung einer weiteren zeitlichen Dimension, des Konjunktiv II, der „Geschichte, die sich nicht ereignet hat, bzw. der Geschichte, wie sie sich hätte ereignen können“, ein tieferes Verständnis der Gegenwart als etwas Kontingentes, Zufälliges.

Das frappierende Ergebnis dieses Zurückdrehens der Geschichte gegen den Uhrzeigersinn der historischen Abfolge ist eine Vergegenwärtigung der ehemaligen Bewohner und deren symbolische Rückführung in ihr vormaliges Zuhause, indem ihre Habseligkeiten aus einem Haufen Schutt geborgen und als Habitat imaginiert werden. Doch wäre es irrig anzunehmen, dieses textuelle Vorgehen sei gleichbedeutend mit der politischen Forderung nach einem palästinensischen Recht auf Rückkehr. Die Frage der Legitimität einer solchen Forderung und deren Aussichten im Verhältnis und Vergleich zu anderen Forderungen auf Repatriierung in einem Jahrhundert ethnischer Homogenisierung und nationaler Zusammenführung ist in anderen Kontexten von vielen berufenen Stimmen erörtert worden.

Ich aber befasse mich nicht mit Rückkehr, sondern mit einer Rückgabe, nicht mit Restauration, sondern mit einer Restitution. Denn die symbolische Rückführung der ehemaligen Bewohner möchte inmitten und ungeachtet der Dynamik eines noch aktiven Konfliktes ein Gegengewicht ausüben zu der allgemein verbreiteten Neigung, in dem Flüchtling jemanden zu sehen, der sich aufgrund seiner Existenz außerhalb der kosmologischen Ordnung der Dinge befindet. Es war Hannah Arendt, die als eine der ersten in dem bekannten Kapitel „Aporien der Menschenrechte“ in ihrem Buch „Ursprünge und Elemente totaler Herrschaft“ auf die für die Lage des Flüchtlings charakteristische Heimatlosigkeit hingewiesen hat. Dieses Kapitel hat Dan Diner als einen jener Textteile von Arendts Werk charakterisiert, „in dem die jüdische Erfahrung der politischen Heimatlosigkeit in eine Kritik der universellen Menschen- und Bürgerrechte übergeht. Ahrendt beschreibt eine Identität, die zwischen dem Verlust der Heimat und dem politischen Status und eines Ausstoßens aus der Menschheit überhaupt entsteht. Gegen eine solche „Ausstoßung aus der Menschheit überhaupt“ möchte die so vorgenommene virtuelle Repatriierung die palästinensischen Flüchtlinge in der Sphäre des israelischen Bewusstseins einbürgern.

Die Vision eines binationalen Staates

Die virtuelle Einbürgerung des palästinensischen Flüchtlings soll zum Verständnis seiner Motive in Vergangenheit und Gegenwart beitragen – und dies mit dem Ziel, Empathie zu erzeugen, die vielleicht das ihre zu einer künftigen politischen Regelung wird beitragen können. Dieses Vorhaben ist eng verbunden mit bestehenden Tendenzen in der geschichtlichen Forschung, wie sie von israelischen und anderen Historikerinnen und Historikern in den letzten zwei Jahrzehnten betrieben wird. Einer solchen Historiographie geht es darum, die Zeituhr anzuhalten, um durch einen neuen und erneuerten Blick auf Entwicklungen, die der Tragödie vorausgingen, historische Alternativen zu erwägen, die – vielleicht – den Konflikt hätten verhindern oder zumindest seine Auswirkungen hätten mildern können.

Der Beginn dieser „neuen“ Historiographie fällt zusammen mit der optimistischen, ja beinahe euphorischen Atmosphäre einer Vorstellung vom „Ende des Konflikts“ wie sie mit den Verträgen von Oslo Einzug hielt. Ihr Währen über diese Zeit hinaus trotzt der nachfolgenden Enttäuschung und des mit ihr einhergehenden Pessimismus. Der Bankrott des Osloer Konstrukts, des – bislang – letzten Versuchs, eine Aufteilung des Landes herbeizuführen, begünstigte eine politische und historiographische Neigung, Modellen der Vergangenheit nachzugehen, die jenseits von Territorialität angelegt sind – so etwa das Modell einer binationalen Lösung. Diese Vision war zum ersten Mal Mitte der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts formuliert worden, von einigen Zionisten, die allermeisten von ihnen Intellektuelle aus Mitteleuropa, die, zum Teil am eigenen Leibe, die verheerenden Resultate der europäischen Minderheitenpolitik erfahren hatten, wie sie sich als Ergebnis des 1. Weltkriegs ausgestaltet hatten.

Über direkte Kontakte zur arabischen Seite hofften diese Intellektuellen, eine Alternative zu schaffen zur Errichtung eines jüdischen Nationalstaates in Palästina. Ihre Bestrebungen basierten auf einem Plan zur Dezentralisierung von Kompetenzen und der Schaffung eines vielgliedrigen Regierungssystems, das das Gewicht der hereditären Identitäten abschwächen sollte und diese von der zentralen, paritätischen politischen Herrschaft weg, in begrenzte Bereiche lokaler kultureller Autonomie überführen sollte. Denn ein solcher Nationalstaat, so ihre Überzeugung, sei untauglich, in dem die Nation sich den Staat zu Eigen gemacht hat, um mit Hannah Arendt zu sprechen. Erhebliche Zweifel allerdings bestehen, ob eine paritätische Lösung, wie sie die Mitglieder des „Brit Shalom“, viele von ihnen Mitbegründer der Hebräischen Universität in Jerusalem, Ende der zwanziger Jahre den Arabern antragen wollten, bei diesen überhaupt auf Gegenliebe gestoßen wäre, zu einem Zeitpunkt, als die arabische Bevölkerung rund 90 % aller Bewohner des unter britischer Mandatsherrschaft stehenden Palästinas ausmachten. Auch die jüdische Öffentlichkeit im Lande begegnete den Initiatoren dieses Vorstoßes mehrheitlich mit Unverständnis, vor allem aufgrund ihrer Bereitschaft, auf die zionistische Forderung nach einer freien, unbeschränkten jüdischen Zuwanderung zu verzichten. Doch wie auch immer, ihre Hoffnungen sollten untergehen in einer Welle der Gewalt, die das Land im Jahre 1929 erfasste und ausgerechnet in den gemischt arabisch-jüdischen Städten ihren Höhepunkt erreichte – mithin an jenen Orten, die das Zentrum der binationalen Vision ausmachen sollten und mehr als alles andere die erhoffte Alternative eines Lebens in friedlicher Eintracht symbolisierten.

„Freiheit gibt es nur in dem eigentümlichen Zwischen-Bereich der Politik. Von dieser Freiheit retten wir uns in die ‚Notwendigkeit’ der Geschichte“, schreibt Arendt im August 1950. Eine erneute Sichtung ihres publizistischen Schaffens mit Erscheinen der Aufsatzsammlung „Jewish Writings“ offenbart, dass selbst sie – die „nicht-zionistische Zionistin“ oder „Proto-Zionistin“ – Mitte der vierziger Jahre vermeiden wollte, was sich als historische Notwendigkeit abzeichnete, und den Gang der Ereignisse aufzuhalten gewillt war, das heißt die Errichtung eines jüdischen Nationalstaates in Palästina. Ein Plan, der zum damaligen Zeitpunkt wachsende Unterstützung in zionistischen Gremien verbuchen konnte und den Arendt, als ihrer Meinung nach irrige Lösung, nachdrücklich ablehnte. Es gibt, wie inzwischen überzeugend nachgewiesen wurde, viele, die fälschlicherweise annehmen oder aber weiterhin die irreführende Meinung vertreten, Arendt habe stets die binationale Option unterstützt. Doch dem ist nicht so. Nach ihrem Verständnis hätte eine Binationalität den Status der Juden als Minderheit gegenüber einer arabischen Bevölkerungsmehrheit auf immer festgeschrieben. De facto aber trat sie für eine föderative Idee ein, ein Ansatz, der in verschiedenen Zusammenhängen in den frühen vierziger Jahren in Europa erörtert wurde. Sei es eine Ordnung im Rahmen des britischen Commonwealth oder aber innerhalb einer mediterranen Föderation.  Arendt jedenfalls glaubte, eine föderative Lösung könne verhindern, was sich nach ihren Worten als „tragischer Konflikt“ abzuzeichnen begann, da ein jüdischer Nationalstaat, den Arabern keine andere Option ließe, „als zwischen freiwilliger Emigration und einer Existenz als Bürger zweiter Klasse zu wählen“.

Ahrends historische Fehleinschätzung

Ungeachtet aller Nähe Arendts zu jenen mitteleuropäischen Gelehrten des „Brit Shalom“ ist mehr Trennendes als Gemeinsames zu erkennen. So öffnet sich eine Kluft zwischen deren Suche Ende der zwanziger Jahre nach einer Kompromissformel der Koexistenz zwischen den jüdischen Kolonisten und den arabischen Einheimischen einerseits und jenem Moment, Ende 1944, andererseits, als Arendt in ihrem breit rezipierten Aufsatz „Zionism Reconsidered“ ihre Vorbehalte gegen einen jüdischen Nationalstaat formulierte. Ein entscheidendes historisches Ereignis liegt zwischen diesen beiden Zeitpunkten, ein Ereignis, ohne das es zweifelhaft erscheint, ob sich die Dinge so entwickelt hätten, wie sie sich entwickelt haben. Als entscheidend, so hat Max Weber vorgeschlagen, erweist sich ein historisches Ereignis, wenn „bei Ausschaltung desselben aus dem Komplex der als mitbedingend in Betracht gezogenen Faktoren oder bei seiner Abänderung in einem bestimmten Sinne der Ablauf der Geschehnisse nach allgemeinen Erfahrungsregeln eine in den für unser Interesse entscheidenden Punkten irgendwie anders gestaltete Richtung hätte einschlagen können“.

Kaum jemand würde ernsthaft in Frage stellen, dass sich der Konflikt, und mit ihm das Schicksal der Palästinenser, in eine gänzlich andere Richtung entwickelt hätte, hätte es den Holocaust an den europäischen Juden nicht gegeben. Hannah Arendt hat zu Recht auf die Machtlosigkeit des Zionismus zur Rettung der Juden Europas verwiesen und darauf, dass die Juden im Lande um ein Haar ebenfalls der Vernichtung hätten anheim fallen können, wäre der Vormarsch von Rommels Truppen im westlichen Ägypten nicht gestoppt worden. Diese Feststellung Arendts hat seinerzeit ihren Freund Gershom Scholem sehr verärgert, genauso wie sie bis auf den heutigen Tag bei nicht Wenigen Erregung hervorruft. Dennoch, eingedenk der Kluft, die sich zunehmend auftat zwischen Scholems Sorge um das Judentum und Hannah Arendts Sorge um die Juden, war und ist Arendts stichelnde Bemerkung nicht von der Hand zu weisen.

Die Vernichtung der europäischen Juden hingegen veränderte sowohl die Zielsetzung des Zionismus grundlegend als auch die Chancen für eine Realisierung seiner Aspiration, in Palästina einen jüdischen Staat zu errichten. Während sich Arendts pessimistische Prognosen zum Schicksal der Palästinenser angesichts der zionistischen Bestrebungen im Nachhinein als präzise und zutreffend erweisen sollten, konnte sie zum damaligen Zeitpunkt noch nicht jene Entwicklungen voraussehen, die die Aussichten auf eine Verwirklichung der zionistischen Bestrebungen entscheidend verbessern sollten. In jenem, Ende 1944 verfassten Aufsatz „Zionism Reconsidered“, bezweifelt Arendt, ob die einhunderttausend jüdischen Flüchtlinge – so ihre Schätzung –, die sich nach dem Krieg in Europa finden würden und in einem langsamen Strom, der sich gut und gerne über zehn Jahre zu erstrecken versprach, nach Palästina würden emigrieren können, dies tatsächlich auch tun wollten.

Angesichts der Möglichkeiten eines Verbleibs, einer Integration und Einbürgerung in Europa war Arendt davon überzeugt, dass diese Menschen es zumindest zu einem Teil vorziehen würden, auf dem alten Kontinent zu verbleiben und sich gegen eine Emigration entscheiden werden. Diese Prognose des Jahres 1944 sollte sich schlicht als falsch erweisen, sowohl hinsichtlich der Zahl der Flüchtlinge und Überlebenden als auch in Bezug auf die hypothetischen Möglichkeiten, die sich ihnen im Westen eröffnen würden. Insbesondere jedoch sollte Arendt mit Blick auf die politische Realität, die sich in Mittel- und Osteuropa herauszubilden begann, falsch liegen, vor allem mit Blick auf jenen Prozess einer ethnischen Homogenisierung, den diese Staaten im sowjetischen Einflussbereich unter kommunistischer Ägide und als Ergebnis des 2. Weltkriegs zu durchlaufen begannen. Der Zionismus hatte, selbstverständlich, nicht den Holocaust an den europäischen Juden verhindern können, doch die Vernichtung des europäischen Judentums, die Ethnifizierungen in Mittel- und Osteuropa, der Kalte Krieg und der Beginn der Dekolonisierung als Folge und Ergebnis des 2. Weltkriegs, nach dessen Ende, schufen eine internationale Konstellation, die die Errichtung des Staates Israel ermöglichen sollte.

Die Zahl der jüdischen Überlebenden und Flüchtlinge war größer als Arendt angenommen hatte, deren Möglichkeiten, in den Westen zu emigrieren oder sich in den westeuropäischen Demokratien zu integrieren, jedoch weitaus eingeschränkter, während ihr Vermögen, in den Volksrepubliken, die im sowjetischen Einflussbereich Osteuropas entstanden, eine ethnische und kulturelle jüdische Existenz zu bewahren, gleich Null war. Folgerichtig sollte sich die Bereitschaft dieser Menschen, angesichts fehlender Alternativen, zu warten und hartnäckig an die Tore Palästinas zu pochen, größer erweisen, als Hannah Arendt angenommen hatte, während die internationale Legitimation, die sie zu wecken vermochten, letztendlich eindeutiger ausfiel als erwartet. So wurde die Heimat der palästinensischen Araber tragischerweise zur Zufluchtsstätte der Holocaustüberlebenden, eine Lage, die Arendt in „Ursprünge und Elemente totaler Herrschaft“ wie folgt resümiert:

„Nach dem Krieg hat sich dann herausgestellt, dass man gerade die Judenfrage, die als die einzig unlösbare galt, lösen konnte, und zwar aufgrund eines inzwischen erst kolonisierten und dann eroberten Territoriums, dass aber damit weder die Minderheiten- noch die Staatenlosenfrage gelöst sind, sondern dass im Gegenteil die Lösung der Judenfrage, wie nahezu alle Ereignisse unseres Jahrhunderts, auch nur zur Folge gehabt hat, dass eine neue Kategorie, die arabischen Flüchtlinge, die Zahl der Staaten- und Rechtlosen um weitere siebenhundert- bis achthunderttausend Menschen vermehrte.“

Archäölogische Schichten

Wie genau aber vollzog sich ein derartiger Vorgang? In Haifa, zum Beispiel, wurden in den verlassenen Häusern der Araber rund 24.000 der insgesamt etwa 190.000 jüdischen Flüchtlinge und Emigranten angesiedelt, die in dem kurzen Zeitraum zwischen dem Abzug der Briten aus Palästina im Mai 1948 und dem März des darauffolgenden Jahres ins Land kamen. In seinem bekannten Standardwerk „Die Geburt des palästinensischen Flüchtlingsproblems“ widmet Benny Morris dem eine kurze und lakonische Beschreibung, in der er zu der Feststellung kommt: „In Jaffa und Haifa befanden sich die größten – und auch modernsten – Konzentrationen an verlassenen arabischen Häusern, und daher war es nur natürlich, dass man die ersten Massen der Neueinwanderer in diese Städte kanalisierte.“

Morris nüchternes Diktum jedoch stellt eine Ausnahme dar, die nicht von der Regel kündet, das soll heißen der historiographischen Forschung in ihrer Gesamtheit, die es vorzog, sich nicht allzu intensiv mit dem Überlebenden zu beschäftigen, der im Haus des Flüchtlings wohnt. Die Tragödie blieb ein Betätigungsfeld der Literatur. So etwa bei Ghassan Kanafani, der sich 1969 im Exil in Beirut entschloss, in seiner Novelle „Die Rückkehr nach Haifa“ die Holocaustüberlebende Miriam Goshen im Haus der palästinensischen Flüchtlinge Said und Safiya wohnhaft werden zu lassen. Kanafanis Fähigkeit, den Konnex der Ereignisse zu erkennen, und der Wagemut seiner empathischen Geste, die er als Flüchtling gegenüber dem Schicksal des Feindes, der zugleich Überlebender des Holocausts ist, an den Tag legt, waren seiner Zeit weit voraus. Eine Lösung im politischen Sinne indes enthielt sie nicht. Alle Empathie vermochte die Frustration des Flüchtlings angesichts des Unvermögens, das eigene Haus, mithin die eigene Vergangenheit wiederzuerlangen, nicht zu beseitigen.

Nachdem Kanafani seinen Helden Said auf die Reise geschickt hat, um sein ehemaliges Zuhause aufzusuchen, und ihm so ermöglicht, einen Blick auf eine Zukunft zu werfen, die sich für ihn nicht erfüllt hat, lässt er ihm am Ende der Novelle keinen anderen Ausweg, als beim Verlassen seines verlorenen Heims noch auf der Schwelle den jetzigen Bewohnern zuzuwerfen: „Ihr könnt vorläufig in unserem Haus bleiben. Das ist etwas, zu dessen Bereinigung es einen Krieg braucht.“ Diese Prophezeiung Ende der sechziger Jahre spiegelt glaubwürdig die damalige Zeit wider, eine Zeit des bewaffneten Kampfes, womit Kanafanis Novelle in zwei Sprachen verharrt: der literarisch-empathischen einerseits und der ideologisch-bellizistischen andererseits. Das Wissen darum, dass der Überlebende im Hause des Flüchtlings wohnt, scheint allerdings ein wenig abgestumpft zu sein, je mehr Zeit seitdem verstrichen ist. Denn diesem Wissen ist offenbar ein Schicksal bestimmt, das sich mit dem Paradoxon deckt, welches das Strandgut auf der von Druks geschaffenen Assemblage zum Ausdruck bringt: Gerade die festen, harten Materialien sind unter dem Einfluss von Wasser und Sand abgeschliffen und haben ihre scharfen Konturen verloren. Ja, mehr noch, der politische Stillstand und die durch die Fortdauer der Besatzung erfolgte Wandlung von etwas Akutem in Chronisches haben in gewissem Maße Erschöpfung und Überdruss hervorgebracht. Zudem haben sie das obsessive Beharren der jüdischen Seite, ihr Schicksal als Argument im Konflikt heranzuziehen, auf Dauer entkräftet.

In der Schichtung der kontemporären Archäologie stellen die Holocaustüberlebenden eine weitere Schicht dar, auch wenn ihr Verbleib in dem verlassenen palästinensischen Eigentum zumeist nur von kurzer Dauer war. Zu Beginn der fünfziger Jahre und nachdem sie im Lande Fuß gefasst hatten, tauschten viele von ihnen die „hinterlassenen Besitztümer“ gegen modernere und großzügiger geschnittene Wohnverhältnisse ein. Die von den Holocaustüberlebenden geräumten Häuser und Wohnungen wurden von der nächsten Welle von Einwanderern bezogen, vor allem von mittellosen jüdischen Emigranten, vormaligen Bewohnern der Mellahs, der Armenviertel Marokkos, die nach ihrer Einwanderung nach Israel den Weg in die großen Städte fanden und ihre in Marokko zurückgelassenen Behausungen gegen die der Palästinenser eintauschten. Ihre Emigration war ein verkehrtes Spiegelbild der Ereignisse des Jahres 1948 in Palästina, und es besteht kein Zweifel, dass die Ereignisse dort auf ihren Status und ihre Situation in Marokko abgestrahlt haben.

Das Sichtbarwerden von Heterogenität

Denn diese Entwicklungen in Palästina und Israel einerseits und in Marokko am Vorabend der Unabhängigkeit des Landes andererseits vollzogen sich als Teil eines Dekolonisierungsprozesses und waren, ähnlich den ethnischen Homogenisierungen in den mittel- und osteuropäischen Staaten einige Jahre zuvor, ein indirektes Resultat des 2. Weltkriegs. Dass die zionistische Bewegung mit Verspätung ihr Interesse auf die Juden in den islamischen Ländern richtete, resultierte aus den katastrophalen demographischen Auswirkungen, die der 2. Weltkrieg gezeitigt hatte. Dabei war es der zionistischen Führung ein Leichtes, das religiöse Empfinden, das vielen der marokkanischen Juden gemein war, vom „Heiligen Land“ auf den Staat Israel zu übertragen, insbesondere nachdem der Widerstand gegen den Zionismus in jenen Kreisen, die in der Vergangenheit noch assimilatorische Positionen unterstützt hatten, sukzessive schwand, vor allem vor dem Hintergrund der für sie folgenreichen Kollaboration des Vichy-Regimes mit Nazideutschland und der antijüdischen Gesetzgebung in Nordafrika.

Der Protest dieser jüdischen Einwanderer aus Marokko, der letzten Bewohner Wadi Salibs und die schweren Unruhen, die im Sommer 1959 aufflammten, erzeugten in Israel zum ersten Mal ein politisches Bewusstsein für den tiefen Riss, der sich aufgetan hatte zwischen den aus Europa eingewanderten Emigranten – den „Aschkenasim“ nach landläufiger Sprachregelung – und den aus Afrika und Asien ins Land gekommenen Juden, den „Sephardim“, wie sie in der Vergangenheit bezeichnet wurden, ehe sich die heute übliche Bezeichnung „Misrachim“ – „Orientalen“ – durchsetzte. Die materielle Notlage dieser mittellosen Immigranten wurde nun allmählich wahrgenommen, zu einem Zeitpunkt indes, da in den Jahren nach 1952 ein Teil der im Lande lebenden Holocaustüberlebenden mittels persönlicher Entschädigungszahlungen ganz allmählich die eigenen Lebensbedingungen hatte verbessern können

Doch während die sogenannten "Wiedergutmachungszahlungen“ die materielle Lage der Holocaustüberlebenden verbesserten, vertieften sie gleichzeitig die materielle Kluft zwischen ihnen und den mittellosen Immigranten aus den arabischen Ländern. Zur materiellen Dimension gesellte sich die symbolische. Während die Entschädigungszahlungen den Überlebenden Anerkennung zollte, wurde der vergangenen Welt der marokkanischen Juden speziell und der der Einwanderer aus arabischen Ländern allgemein in Israel keinerlei Anerkennung zuteil.

Mancher ist heutzutage versucht, eine Inventarliste des jüdischen Eigentums zu erstellen, das die Juden in den arabischen Staaten zurückgelassen haben, um dieses – als Geste gewissermaßen der retroaktiven Anerkennung der jüdischen Einwanderung aus den islamischen Ländern als Teil eines großen, orchestrierten Bevölkerungsaustausches – als künftige Berechnungsbasis und Faustpfand gegen mögliche palästinensische Entschädigungsforderungen zu verwenden. Dieses Verfahren jedoch, das eine Negativverbindung zwischen den palästinensischen Flüchtlingen einerseits und den Emigranten aus den Ländern des Islam andererseits herstellt, ist jedoch unlauter. Denn aus zionistischer Perspektive waren die Menschen keine Flüchtlinge, sondern Einwanderer gewesen, die in ihre alt-neue Heimat zurückkehrten. Am anderen Ende des politischen Spektrums in Israel finden sich jene, die im Sinne einer orientalistischen Deutung eine Verbindung zwischen den „Misrachim“ und den palästinensischen Bürgern Israels herstellen wollen - eine Verbindung zweier Gruppen, die durch das zionistische, das aschkenasische Establishment gleichermaßen benachteiligt und unterdrückt würden.

Empathie durch das Offenlegen von Geschichte

Doch neigt dieses Verständnis – wissentlich oder nicht – dazu, die Charakteristika des israelischen Projekts einer ethnischen Homogenisierung zu übersehen. Denn ungeachtet seiner osteuropäischen Wurzeln und der Tatsache, dass es sich parallel zu ähnlichen Entwicklungen in Osteuropa in den ersten Jahren nach 1945 vollzog, unterscheidet sich die israelische Variante von diesen maßgeblich darin, dass sie nationale Minderheiten nicht zu assimilieren gedachte. Der jüdische Nationalstaat hat weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart eine nationale Minderheit – konkret: die Palästinenser – jemals angehalten noch es ihnen ermöglicht, sich in die Mehrheitsgesellschaft zu integrieren. Eine tatsächlich existierende oder auch nur imaginierte kulturelle Beziehung zwischen Palästinensern und Misrachim kann die grundlegende Tatsache nicht aus der Welt schaffen, dass die Notlage der Palästinenser schon immer im politischen Bereich verortet war, während die der Misrachim eindeutig im sozialen Bereich festzumachen ist. In Bezug auf die Unterscheidung zwischen diesen beiden Bereichen gilt noch immer Hannah Arendts Diktum, zu finden in ihrem scharfen Artikel „Little Rock“, ein Artikel, der auf viel Unverständnis gestoßen war, obschon er völlig verständlich ist: „Diskriminierung ist ein ebenso unabdingbares gesellschaftliches Recht wie Gleichheit ein politisches ist.“

Es wäre naiv anzunehmen, der hier betriebenen kontemporären Archäologie könne es gelingen, dem Telos des Konfliktes entgegenzuwirken und mittels einer Geschichte, die sich nicht ereignet hat, die Historiographie zu einem politischen Gebrauchsinstrument zu machen. Eine Geschichtsschreibung, die entschärfen möchte, um Dinge zu verschärfen, will nicht instrumentalisiert werden und lässt sich nicht für einen akuten Zweck rekrutieren. Die Aussöhnung verschiedener Narrative durch den Historiker ist kein Ersatz für die Lösung von Konflikten durch die Politik, und mit einigem Fug und Recht lässt sich behaupten, dass die Annäherung historischer Narrative nur unter der Bedingung eines Endes des Konfliktes überhaupt möglich wird. Die beiden zurückliegenden Jahrzehnte waren bestimmt von Turbulenzen und Verwerfungen, dennoch herrschte die optimistische Grundannahme vor, über kurz oder lang werde sich der Konflikt als lösbar erweisen.

Diese Annahme und Hoffnung haben mein Schreiben genährt, haben ihm zugleich bescheidene Ziele diktiert, so zum Beispiel sich darauf zu beschränken, Empathie hervorzurufen: das Mitempfinden der Juden in Israel für das Schicksal der palästinensischen Flüchtlinge zu steigern und gleichzeitig die Lage der Palästinenser, soweit sie Bürger des Staates sind, zu verbessern; die innerisraelisch-jüdische Empathie für die verlorene Welt der Holocaustüberlebenden einerseits und der Einwanderer aus den muslimischen Ländern andererseits zu stärken; und vielleicht auch die Empathie des Betrachters und der Betrachterin von außen zu erzeugen, die des nicht enden wollenden Konfliktes nicht selten überdrüssig sind, weil sie angesichts der Dichte und der schnellen Abfolge der Ereignisse die tragischen Umstände vergessen haben, aufgrund derer sich der Überlebende eines Tages im Hause des Flüchtlings wiederfand.

Würde eine solche Hypothese fehlen, eine derartige optimistische Grundhaltung, etwa im Falle einer Veränderung des Telos und eines Schwindens der Aussöhnungsoption, erschiene es sehr zweifelhaft, welchen Nutzen die kontemporäre Archäologie und ihre feinen textuellen Schritte hätte.


Aus dem Hebräischen von Markus Lemke